Irgendetwas ist passiert, das dich ärgert, du bist sauer, es beschäftigt dich, du fühlst dich schlecht … und weil es dich beschäftigt, machst du dir Gedanken und diese Gedanken nehmen vielleicht immer mehr Raum ein und wenn du mit anderen Menschen zusammen bist, erzählst du ihnen dein Missgeschick. Das ist völlig normal. Fast alle Menschen machen das so … aber bringt es dich weiter? Entlastet es dich wirklich? Ja, es entlaste dich wirklich, wenn …

… du 1. beim Erzählen allen den Gefühlen begegnest, d. h. alle diese Gefühle wirklich fühlst, welche du in der ursprünglichen Situation nicht fühlen konntest oder nicht fühlen wolltest.

… oder wenn dir 2. beim Erzählen eine Wahrheit bewusst wird, die du in der Situation selbst nicht wahrnehmen wolltest oder konntest.

Zu dem ersten Punkt: Welchen unangenehmen Gefühlen könntest du beim Erzählen begegnen, die du in der ursprünglichen Situation vermieden hast zu fühlen?

Ganz einfach: Es sind nur die sechs Grund-Gefühle oder es sind Misch-Gefühle, die aus diesen sechs Grundgefühlen bestehen.

Diese sechs Grundgefühle sind:

  1. Angst
  2. Wut/Groll
  3. Trauer
  4. Scham
  5. Schuld
  6. Schmerz

Zu 1.: Hattest du in der Situation eine unangenehme Angst, die du in dieser Situation nicht fühlen wolltest oder konntest und die du daher – vielleicht zurecht – verdrängt hattest?

Zu 2.: Hattest du in der Situation einen unangenehmen Groll/ eine unangenehme Wut auf jemanden, der dir Schaden zugefügt hatte, einen Groll oder eine Wut, die du aber verständlicherweise in dieser Situation nicht ausdrücken konntest oder wolltest?

Zu 3.: Fühltest du in dieser Situation eine unangenehme Trauer, weil du gemerkt hast, welch ein Verlust auf dich zukommt und du konntest oder wolltest das Verlust-Gefühl, die Trauer nicht fühlen oder nicht ausdrücken?

Zu 4.: Oder hattest du in der Situation das Gefühl, dass du dich wegen irgendeines eigenen Verhaltens schämen musstest und du hast diese Scham einfach überspielt, weil sie dir so unangenehm erschien? Oder du wurdest in der Situation von jemandem anderem beschämt und du konntest diese Beschämung aus welchen Gründen auch immer nicht zurückweisen? Und du hast das Gefühl der Scham verdrängt, weil es dir unannehmbar erschien?

Zu 5.: Oder du hattest in der Situation das Gefühl, dass du selbst etwas gemacht hast, das eigentlich nicht in Ordnung war? Jedoch genau dieses Gefühl war für dich unangenehm und du wolltest das auf keinen Fall zugeben! Und so hast du das Gefühl der Schuld verdrängt. Vielleicht war damit auch ein gewisses Gefühl des Schmerzes vorhanden genau in dem Moment, wo du den Anderen geschädigt hattest, ein gewisses Mitgefühl für den Anderen. Auch dieses Gefühl wird normalerweise kaum wahrgenommen und wird daher verdrängt.

Zu 6.: Oder die Situation war so, dass du deutlich den körperlichen und/oder den psychischen Schmerz hättest fühlen können, den du in der Situation erlittenen hast? Aber du wolltest stark sein: “ Das hat ja gar nicht weh getan!“ Und du hast den Schmerz verdrängt. Vielleicht hast du dann auch den Groll/die Wut verdrängt, die du verspürt hattest gegenüber dem Täter, dem Verursacher dieses Schmerzes!

 

Und nun zur zweiten Bedingung unter der das Erzählen deiner Geschichte Sinn macht:

Um welche Wahrheit könnte es gehen, die du in der vorausgehenden Situationen nicht wahrnehmen wolltest oder konntest?

Eine Wahrheit, die zeigt, wie du selbst dich irren konntest, wie du dich selbst getäuscht hast und wie durch die Wahrheit, die jetzt durchkommt, die ursprüngliche gute Ordnung wieder zurückkommen kann. So kann doch durch ein gutes Gespräch die Wahrheit wieder ans Licht kommen, eine Wahrheit, die – wie unangenehm sie im ersten Moment auch sein mag – dennoch wieder zu Frieden und zur Rückkehr der Lebensfreude führen kann.

So kann dich die Erzählung deiner Geschichte wirklich entlasten, wenn dadurch die Begegnung mit deinen wahren Gefühlen und die Begegnung mit der Wahrheit stattfinden kann.

Jedoch entlastet es dich überhaupt nicht und es ist auch für dein Gegenüber, dem du deine Geschichte erzählst, meistens auch gar nicht amüsant, wenn du deine Geschichte nur deshalb erzählst, um zu zeigen, wie schlecht es dir geht.

Oder wenn du sie nur deshalb erzählst, damit dir der Andere einen Rat geben kann und du ihm dann zeigen kannst – vielleicht zurecht – wie unmöglich oder wie ineffizient dieser Rat zu verwirklichen ist.

Oder wenn du in dem Gefühl, dass es dir so schlecht geht, verharrst und – verzeihe mir den unfreundlichen Ausdruck – du darin baden möchtest!  (Einer sagte: “Mir geht es schlecht!“, der Andere sagt dann: “Das ist noch gar nichts, mir geht es noch viel schlechter, weil …!“)

Und warum bringt dir das Erzählen deiner Geschichte auf diese Weise nichts, warum bringt sie dich nicht weiter?

Weil du glaubst, du seiest deine Geschichte, weil du glaubst, dass nicht nur die erlebte Situation schwierig ist, sondern dass du selbst beeinträchtigt, verletzt, behindert und so weiter bist. Das bist du aber gar nicht!

Natürlich hat die vertrackte Situation Spuren hinterlassen! Aber wenn du zum Beispiel durch den frischen Schnee läufst, dann hinterlässt du auch Spuren. Aber bist du diese Spuren?  Nein, du bist derjenige, der sich umdrehen kann und die Spuren betrachten, wahrnehmen kann und feststellt, dass du derselbe bleibst, ob du Spuren hinterlassen hast oder nicht und dass du derselbe bleibst, wie auch immer diese Spuren aussehen mögen. Also bleibe derjenige, der du bist und identifiziere dich nicht mit den vergangenen Spuren deiner Geschichte, auch wenn sie noch so schlimm oder entsetzlich oder unannehmbar sein mögen! Es sind lediglich Erfahrungen, die du gemacht hast. Und sie sind Vergangenheit! Du selbst bist das Leben und das Leben ist JETZT!

Jedoch ist das Loslassen der Identifikation mit der eigenen Geschichte das Schwierigste überhaupt. Überall, in der Zeitung, im Fernsehen, beim Nachbarn, bei den Freunden … überall begegnen dir die mehr oder weniger interessanten, mehr oder weniger ungewöhnlichen, mehr oder weniger verwunderlichen, mehr oder weniger schmerzhaften Geschichten und alle diese Geschichten wollen erzählt werden und wollen gehört werden! Und da leben auch viele Menschen davon, die mit dem Schreiben oder Verfilmen dieser Geschichten ihren Lebensunterhalt bestreiten. Unser Fernsehen, unsere Zeitungen wären sehr arm, sehr inhaltsleer, wenn diese Geschichten nicht erzählt werden würden.

Naja, wenn sie wirklich amüsant sind, wenn sie irgendwie aufbauend, ermutigend sind, warum nicht?

Aber erkenne, wenn sie nur die eigene Negativität in dir ansprechen und du diese Negativität aufnimmst und damit deinen eigenen sogenannten “Schmerzkörper“ mit den Gefühlen von Wut/Groll oder Angst oder Schmerz – wahrscheinlich völlig unbewusst –  ernähren möchtest.

Obwohl das ja so normal ist, so üblich, so weit verbreitet, macht das eigentlich überhaupt keinen Sinn und hält dich selbst in deiner eigenen Negativität, in deinem eigenen Elend fest!

Und genau das gilt es zu erkennen!

Und wenn du das so erkannt hast, dann wird es dir unmöglich sein, dieses übliche und weitverbreitete Spiel weiter zu spielen, das Spiel des Erzählens von jenen Geschichten, die nur die Negativität weiter geben von Mensch zu Mensch!

Und außerhalb der Geschichten deiner Vergangenheit bist du, JETZT, HIER, am Leben. Und das ist großartig genug!

Alles Gute!

Claus

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